Dr. Dirk Schmidt
Familie Schlesinger (Weberei)
Weberei und Textilhandel prägten im HL und 19. Jahrhundert neben der Landwirtschaft das Wirtschaftsleben von Bleicherode. Die Geschichte der Familie Philipp Schlesinger ist wesentlicher Teil der Vergangenheit der Stadt. Die Weberei Philipp Schlesinger am Ortseingang von Niedergebra gehörte es zu ihren Großbetrieben. Spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Schlesinger in Bleicherode ansässig. Es gab noch eine andere Familie dieses Namens. die sich im Textilhandel betätigte. Eine verwandtschaftliche Beziehung soll nicht bestehen. Der Stammbaum der Webereifamilie nennt einen Moses Philipp (1759-1847) als Stammvater, der in Bleicherode geboren ist. Die Weberei-Schlesingers hatten für Bleicherode eine hervorragende Bedeutung. Ihr Stammvater Moses Philipp (1759-1847) war Kaufmann wie auch sein Sohn Elias (1790 - 1833). Beide werden im Leinenhandel tätig gewesen sein. Aus der nächsten Generation wurde der Sohn Philipp (1819-1890), der Gründer der Weberei Philipp Schlesinger im Jahr 1836 geboren. Schon 1835 hatte er ein Grundstück und Haus Hauptstraße 101 mit der Wollmanufaktur Trautvetter gekauft, das bis 1938 im Eigentum der Familie blieb. Der von Schlesingers erbaute Neubau prägt noch heute das Stadtbild in Höhe und auf der Seite der Weberstraße. Philipp war zunächst als Verleger für ungefähr100 Handweber tätig. Dann gründele er eine eigene Weberei. 1874 wurde die Firma Mechanische Weberei Philipp Schlesinger OHG errichtet und der Betrieb nach Niedergebra verlegt, wo am Ortseingang am Ufer der Wipper die neuen Webereigebäude gebaut wurden. Philipp hatte neun Kinder. Emil (1847-1920) und Julius (1851-1929) waren Mitgesellschafter. Sie führten die Firma fort. Julius schied 1908 aus der Gesellschaft aus. Emil halte sechs Kinder Oskar (1878.1959), Alice (1880-1950), Walter (1881-1966), Fritz (1885.1966), Elsa (1887-1972) und Paul (1890-1964). Oskar, Walter und Alice beerbten ihn, Fritz wurde Arzt, Paul Rechtsanwalt, Elsas Mann Max Memos war Prokurist in der Weberei. Alice heiratete Felix Helft (1872-1935) aus Derenburg, wohl verwandt mit der auch aus Derenburg stammenden Inhaberfamilie der Weberei Carl Helft. Er wurde 1908 Mitinhaber der Weberei Schlesinger, was gegenüber Kunden zu Verwechslungen führte, weil sie ihn oft für den Felix Helft aus der Nordhäuser Straße hielten. Die jungen Inhaber modernisierten vor dem 1. Weltkrieg die Weberei. In der Kriegszeit waren Oskar und Walter Schlesinger mit ihren Brüdern Fritz und Paul beim Militär und an der Front. Walter geriet am 28. August 1914 in französische Gefangenschaft. Als Unteroffizier erhielt er das EK. Während des Krieges unterstützte seine Frau Else die bedürftige Bleicheröderin Luise Schicke geb. Hartung in der Weberstraße, die drei Kinder zu versorgen hatte, mit einer monatlichen Rente. Darüber wurde Schweigen vereinbart. Nach dem 1. Weltkrieg wurde die Weberei 1926 erneut grundlegend modernisiert. Die Produktion von Halbleinen, Reinleinen, Stuhltüchern und Leinenwäsche war erfolgreich. Walter baute das Haus Burgstraße 6. Felix Helft errichtete das Haus Talstraße 13 (Familienbezeichnung „Talhelft"). Oskar war Geschworener beim Landgericht Nordhausen, im Vorstand seines Berufsverbandes in Berlin, 1. Vorsitzender der Synagogengemeinde seiner Heimatstadt. Um 1933 wurden wohl an die 200 Arbeiter beschäftigt. Dann setzte der Boykott ein. 1935 wurde Gerhard Helft (1906 - 1987) nach dem Tod des Vaters Felix Mitinhaber. 1938 gab es in der Weberei 300 Webstühle. Das erfolgreiche Unternehmen und seine Inhaber blieben natürlich von der Heimsuchung durch die Nazis nicht verschont, auch nicht privat. So wurde der ehemalige Frontsoldat Walter Schlesinger, dem der Krieger- und Landwehrverein Bleicherode noch 1931 für 25jährige treue Mitgliedschaft gedankt hatte, am 5.10.1933 aus diesem Verein ausgeschlossen, „weil Nichtarier dem Kriegerverein nicht angehören dürfen". Das verhinderte nicht die Verleihung des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer durch den sogenannten „Führer" am 20.11.19341. Walter war noch 1938 Mitglied des Reichsbundes jüdischer Frontkämpfer, Ortsgruppe Bleicherode. 1938, im 103. Firmenjahr, wurden die Inhaber im Zuge der Arisierungskampagne gedrängt, das Unternehmen zu verkaufen. Sie weigerten sich zunächst. Durch die Sperre von Rohstofflieferungen und das Eingreifen der Gauwirtschafsstelle wurden sie gefügig gemacht. Nach den Aufzeichnungen von Oskar Schlesinger wurde ihnen ein den Machthabern genehmer Käufer präsentiert. Der Kaufvertrag kam am 20.07.1938 zustande, der Preis betrug 470 Tausend RM. Die industrie- und Handelskammer sowie die Gauwirtschafsstelle lehnten jedoch die Genehmigung ab, der Preis sei zu hoch. Unter diesem Druck wurden schließlich 355 Tausend RM vereinbart. Die Gauwirtschaftestelle erhielt 40 Tausend RM „Provision“. Eine Schätzung von März 1938 hatte den Wert der Grundstücke, Gebäude und Maschinen auf 700.240,00 RM festgesetzt. Die Auszahlung des oktroyierten Kaufpreises auf ein Sperrkonto unterlag den damaligen Verfügungsbeschränkungen Sondersteuern und Strafabgaben für jüdische Unternehmer, die ihre Betriebe veräußern mussten. Am 9.11.1938 (Kristallnacht) wurde Oskar Schlesinger vorübergehend verhaltet und gegen die Verpflichtung freigelassen, Deutschland noch im November zu verlassen. Am 24.11.1938 reiste Oskar Schlesinger mit seiner Frau Helene aus. Sie begaben sich nach Buenos Aires. wo ihre Tochter Liselotte Lehmann schon einige Zeit lebte. Das Ehepaar Lehmann unterhielt die Eltern einige Jahre. Walter Schlesinger zögerte mit der Emigration, er und seine Familie wollten die drohende Gefahr nicht wahrhaben. Die Verwandten in Argentinien mahnten ihn telefonisch, sofort auszuwandern. Oskar Schlesinger, der mit seinen 60 Jahren mühsam etwas Spanisch gelernt hatte, begann 1942 eine Fabrikation von Etuis für Uhren und Schmucksachen. Walter Schlesinger betrieb eine Pension. insbesondere für Emigranten. Dank der Kenntnisse seiner Frau stellte er auch Pralinen her, die in Emigrantenkreisen verkauft wurden. Gerhard Helft. Talstraße 13 („Talhelft“) emigrierte 1938 mit seiner Mutter Alice über England in die USA. In New Jersey betrieb er später ein Autoreifengeschäft. Er wollte dort leben, weil ihn die Landschaft an seine Heimat Bleicherode erinnerte. Elsa Manus geb. Schlesinger und ihr Mann Max konnten nach Argentinien auswandern. Dorthin kamen auch die Brüder Fritz und Paul aus Berlin und Stettin.
|